Frauen mit Engagement

Interview mit Silvia Honigmann, Präsidentin der Schweizer Nicaplast-Gruppe

Frau Honigmann, was ist Ihre konkrete Aufgabe bei diesem Projekt?

Jedes 500. Kind in Nicaragua wird mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Fehlbildung geboren. Während bei uns der Zugang zu adäquater medizinischer Behandlung selbstverständlich ist, werden Menschen mit diesen Fehlbildungen, die unterschiedlichste Formen und Ausprägungen haben können, in den meisten Fällen gar nicht oder nur unzureichend behandelt. Wir reisen jährlich für zwei Wochen nach Nicaragua, um den Menschen vor Ort zu helfen. Wir helfen sowohl direkt, indem wir Patienten behandeln, aber auch indirekt, indem wir Fachleute im Land ausbilden.

Seit wann begleiten Sie das Projekt?

Unsere Gruppe fährt seit 1995 jährlich nach Nicaragua, ich selber bin seit 1999 dabei, und seit der Vereinsgründung im Jahre 2000 bin ich die Präsidentin des Vereins «Schweizerische Nicaplast-Gruppe». Nicaplast steht für plastische Chirurgie für Nicaragua. Wir arbeiten eng mit der «Fundación Nicaplast» zusammen. Das ist eine kleine nicaraguanische Organisation, die humanitäre medizinische Einsätze in Nicaragua organisiert.

Was war Ihr Beweggrund, bei diesem Projekt mitzumachen?

Ich wurde damals gefragt, ob ich mitfahren würde, um den kleinen Patienten und ihren Eltern bei Ernährungsfragen bzw. Ernährungsproblemen beizustehen. Ebenso gefragt war eine Person, die eine Brücke zwischen den Patienten, ihren Angehörigen und der operativen Crew baut. Diese Aufgabe habe ich gerne angenommen und bisher nie bereut.

Wie gross ist Ihr Aufwand?

Durchschnittlich rechne ich mit einem Aufwand von 1⁄2 bis 1 Tag pro Woche. Im Januar laufen die Vorbereitungen für den Einsatz auf Hochtouren, da benötigt es natürlich mehr Zeit. Normalerweise arbeiten wir im Februar 2 Wochen in Nicaragua, hier ist der Aufwand am grössten. Während des Jahres beschäftige ich mich mit Öffentlichkeitsarbeit, Vereinsarbeit, Korrespondenz, Organisation des nächsten Einsatzes usw. – mit allem, was es braucht, um eine kleine Organisation am Leben zu erhalten.

Silvia_Honigmann
Silvia Honigmann ist Präsidentin der Schweizer Nicaplast-Gruppe. Diese Stiftung ermöglicht in Nicaragua seit Anfang der Neunzigerjahre Lippen- und Gaumenspaltpatienten eine fachmännische Operation und Nachbetreuung.

Arbeiten Sie mit einem Team?

Ja, unser Team besteht aus den Fachleuten, die es braucht, um solche komplexen Behandlungen durchzuführen. Konkret kommen jedes Jahr mit: 2 Kieferchirurgen, 3 Anästhesisten, 2 OP-Pflegefachfrauen, 1 Kieferorthopäde und 1 Zahntechniker, 1 Logopädin und ich als Ernährungs- und Stillberaterin, also insgesamt 10–11 Personen.

Wie ist die Zusammenarbeit im Team?

Sehr gut! Es ist so, dass in den 14 Tagen, die wir dort arbeiten, sehr viel geschieht. Jedes Mitglied muss eine Topleistung bieten können. Dafür braucht es Teamgeist, Fach- und soziale Kompetenz und Begeisterung. Ohne diese Ingredienzen funktioniert ein solcher Einsatz nicht.

Werden Sie dafür monetär entschädigt?

Nein, wir arbeiten alle ehrenamtlich. Die Kosten für Einsatz, Transport, Material, Medikamente usw. finanzieren wir aus Spenden.

Welche Befriedigung für sich selbst erhalten Sie daraus?

Ich verbringe meine Tage in Nicaragua mehrheitlich im Patientenzimmer zusammen mit unseren Patienten und ihren Angehörigen. Dabei erlebe ich Höhen und Tiefen, gerade wenn Mütter und Väter warten, dass ihr Kind den Operationssaal verlässt, oder die Sorge, wenn das frisch operierte Kind noch Schmerzen hat und nicht trinken mag. Aber auch die grosse Freude, wenn alles gut überstanden ist. Die Dankbarkeit der Eltern zu verspüren, zu sehen, wie Kinder trotz Spaltfehlbildung ein normales glückliches Leben führen können – dies entschädigt unseren Aufwand hundertfach!

Haben Sie schwierige Zeiten/Situationen erlebt?

Ja, manchmal entstehen leider Komplikationen. Eine ganz schwierige Situation trat 2008 ein, als ein 4 Monate altes Baby nach der Operation verstarb. Auch 2002 mussten wir erleben, wie viele Patienten aufgrund der mangelnden Hygiene im Spital nach der Operation eine Infektion erlitten, sodass die Wunden nicht mehr heilen konnten. Eine grosse Herausforderung für mich ist die Konfrontation mit der Armut. Es kommt immer wieder vor, dass Mütter ihre Babys vorstellen, die so unterernährt sind, dass sie nicht operiert werden können. Säuglinge mit Spaltfehlbildung können oft nicht wirksam saugen. Die für das Überleben notwendige Muttermilchproduktion versiegt und die Mütter haben kein Geld, um Säuglingsnahrung zu kaufen. Mittlerweile ist es mir gelungen, ein Netz von Menschen zu finden, die diese Familien für einige Monate besuchen und Milch für das Baby vorbeibringen. 100 Dollar reichen, um Säuglingsnahrung zu kaufen und ein Baby damit zu ernähren. 100 Dollar reichen, um ein Babyleben zu retten.

Welches war Ihr schönstes Erlebnis?

Davon gibt es viele. Jedes Jahr, wenn wir ankommen, unsere ehemaligen Patienten wiedersehen und weitere Eltern und Kinder, die hoffnungsvoll auf eine Behandlung warten. Ebenso schön für mich war es auch, zu erleben, wie unser Partnerchirurg in Nicaragua nach vielen Jahren Training mit uns bereits sehr gut selber operieren konnte.

Wie stehen Ihre Angehörigen und Bekannten zu Ihrem Engagement?

Die meisten unterstützen uns und helfen mit. Sie wissen, wie wichtig diese Arbeit ist, und helfen, wo immer es möglich ist, mit.

Wie wird dieses Projekt finanziert?

Wir haben im Jahr 2000 einen Verein gegründet und finanzieren uns ausschliesslich über Spenden. Wir sind eine kleine unabhängige Organisation aus ehrenamtlichen Mitgliedern, die sich selbst verwaltet und damit keine übergeordnete, teure Bürokratie benötigt. In einem Einsatz werden 30–60 Patienten behandelt, wofür wir etwa CHF 25.000.– brauchen, das ergibt etwa CHF 600.– pro Patient.

Wie sichern Sie die Existenz dieses Projektes?

Dieses Projekt steht und fällt mit der Bereitschaft ausgewiesener Fachleute, ihre Zeit und ihr Können zur Verfügung zu stellen. Bisher ist es immer gelungen, entsprechende Personen zu finden. Meistens kommen die Mitglieder sogar viele Jahre mit. Unsere OP-Pflegefachfrau Valerie ist bereits seit 1995 mit dabei. Die finanziellen Mittel zu sichern, ist momentan schwieriger. Bisher ist es uns gelungen, die Kosten zu decken. Die letzten 3 Jahre haben wir immer weniger Einnahmen gehabt, sodass die Situation nach dem nächsten Einsatz kritisch wird.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

So lange nach Nicaragua gehen zu können, bis genügend Fachleute die Behandlung von Kindern mit Spaltfehlbildung vor Ort übernehmen können. Bisher ist es uns gelungen, 2 nicaraguanische Fachärzte weiterzubilden. Sie und die vielen Betroffenen brauchen im Moment aber noch unsere Unterstützung.

Was möchten Sie unseren Leserinnen noch mit auf den Weg geben?

Ich möchte mich bei Ihnen für dieses Interview bedanken. Sowohl für unsere Patienten in Nicaragua als auch für uns bedeutet dieses Projekt sehr viel, und hoffentlich konnte ich Ihre Leserinnen ein wenig mit dem Geist einer solchen Arbeit anstecken – denn es gibt noch viel zu tun!

Quelle: Basler Kantonalbank, BKB-Lady-Consult, 2011, Originalartikel: http://www.bkb.ch/frauen_mit_engagement_1-2011.pdf